Von Dr. John Provan, Kelkheim/Ts.
Die Konzeption
Vom General zum Staatsmann aufgestiegen, sollte Außenminister George C. Marshall nur wenige Monate später eine Rede halten, die die Welt erneut verändern sollte. Am 5. Juni 1947, auf den Stufen der Gedächtniskirche an der Harvard-Universität, umriss er seinen ehrgeizigen Europäischen Wiederaufbauplan (ERP), der bald seinen Namen tragen sollte: Marshall-Plan.
Er sagte: „Das moderne System der Arbeitsteilung, auf dem unser Wirtschaftssystem aufgebaut ist, steht vor dem Zusammenbruch. Es ist ganz logisch, dass die Vereinigten Staaten alles Mögliche leisten müssen, um zu gesunden wirtschaftlichen Strukturen zurückzukehren. Ohne diese kann es keine politische Stabilität und keinen gesicherten Frieden geben. Unsere Politik ist nicht gegen irgendein Land gerichtet, sondern gegen Hunger, Not, Armut und Chaos."
Obwohl der Plan hauptsächlich von den Mitarbeitern im Außenministerium William L. Clayton und George F. Kennan entworfen worden war, wurde das Konzept von Marshall dem amerikanischen Volk und dem Kongress präsentiert, um in Europa eine Wiederholung jener Fehler zu vermeiden, die nach dem Ersten Weltkrieg gemacht worden waren. Es war die Politik der amerikanischen Isolierung, die eine Gefahr für Europa durch den Versailler Vertrag zugelassen und einen zweiten schlimmen Krieg auf dem Kontinent begünstigt hatte. Ein solcher Fehler dürfe sich nie wiederholen.
16 Nationen trafen sich im Paris, um zu beraten, welche Hilfen benötigt würden und wie diese aufgeteilt werden könnten. Im abschließenden Entwurf, der von den Vertretern vereinbart wurde, wurde eine Hilfe in Höhe von 22 Milliarden Dollar gefordert - ein Betrag, den Präsident Truman nicht vor dem Kongress rechtfertigen konnte. Obwohl Truman die Forderungen auf 17 Milliarden Dollar reduzierte, traf der Plan immer noch auf heftigen Widerstand. Nach vielen Verhandlungen genehmigte der Kongress schließlich 12,4 Milliarden. Präsident Truman unterzeichnete den Marshall-Plan am 3. April 1948, womit er offiziell in Kraft trat.
Ausführung und Folgen
Die Wirtschaftliche Kooperationsverwaltung (The Economic Cooperation Administration), geleitet von Paul G. Hoffman, wurde gegründet, um die Mittel zu verwalten. Die ersten Hilfen gingen bereits vor der Unterzeichnung im Januar 1947 an die Türkei und Griechenland. Italien folgte im Jahr 1948.
Ein Großteil der Mittel wurde zum Kauf von Gütern eingesetzt, die überwiegend in den Vereinigten Staaten produziert wurden. Anfangs waren es vor allem Lebensmittel und Kraftstoffe. Ein Hauptkritikpunkt an dem Plan war, dass Amerika mit der Hilfe einen wirtschaftlichen Imperialismus verfolgte, um die ökonomische Kontrolle über Europa zu erhalten. In der Realität aber konnten die Beträge, die die USA im Rahmen des Marshall-Planes spendeten, kaum als Imperialismus bezeichnet werden, da sie nur einen Bruchteil des Bruttoinlandsprodukts betrugen und auch die Laufzeit des Hilfsprogramms vom Anfang an begrenzt war.
Ab April 1948 stellten die Vereinigten Staaten diese Mittel zur Verfügung, um wirtschaftliche und technologische Unterstützung für die europäischen Länder zu leisten, die als Mitglieder der Organisation für Europäische Kooperation beigetreten waren.
In Deutschland wurde ein enormer Betrag in den Wiederaufbau der Industrien investiert. Die Kohleindustrie allein erhielt rund 40 Prozent dieser Mittel. Das Konzept war einfach: Firmen, die diese Mittel zur Verfügung gestellt bekamen, sollten diese Darlehen an den Staat zurückzahlen, um hieraus Förderungen für andere Unternehmen zu ermöglichen.
Nachkriegsdeutschland wurde durch den Alliierten Kontrollrat gezwungen, einen Großteil seiner Fabriken und Industrien zu demontieren. Die Zahlen für die Automobilindustrie allein reduzierten sich auf zehn Prozent des Vorkriegsniveaus. Mit der Einführung der Deutschen Mark durch die westlichen Alliierten am 21. Juni 1948 begann eine neue Wirtschaftära in Europa und insbesondere in Westdeutschland.
Der Vertrag von Petersberg, unterzeichnet in November 1949, steigerte die Produktionsmengen in der Bundesrepublik erheblich. Daher war die Bundesrepublik besonders daran interessiert, dieses Konzept am Leben zu halten, auch nachdem der Marshall-Plan offiziell beendet wurde.
Dieser Prozess wird noch heute verfolgt. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) mit Hauptsitz in Frankfurt verwaltet seit 1948 diese Mittel. Unter der Leitung von Dr. Hermann-Josef Abs und Dr. Otto Schniewind hatte die KfW weitere Wunder bewirkt und spielte eine wesentliche Rolle in der Ankurbelung der Wirtschaft in den Jahren des „Wirtschaftswunders". 1950 wurden zwölf Prozent der Darlehen für den Wohnungsbau eingesetzt. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands half die KfW zwischen 1990 und 1997 bei der Finanzierung der Modernisierung von 3,2 Million Wohnungen in Ostdeutschland - fast die Hälfte aller bestehenden Wohnungen in den neuen Ländern.
Diese Institution generiert jährlich 70 Milliarden Euro an Umsatz. Die KfW ist damit Europas größte Förderbank. Heutzutage fördert die Bank nach dem Vermächtnis des Marshall-Plans Projekte in Ländern der Dritten Welt. Der neue Hauptfokus ist jetzt die Mikrofinanzierung; die Herausgabe von Kleinkrediten zur Gründung von kleinen Unternehmen durch verarmte Menschen in der Dritten Welt.
Die anderen europäischen Länder haben über die Jahre die Rückzahlungen dieser Wiederaufbauhilfen in ihren nationalen Haushalten absorbiert, und sie sind deshalb quasi verschwunden. Eine Rückzahlung dieser Mittel an den amerikanischen Staat war nie geplant.
Der Marshall-Plan beinhaltete zusätzlich ein technisches Unterstützungsprogramm. Hier wurden Ingenieure und Unternehmer in die Vereinigten Staaten geholt, um Erfahrung über industriellen Kapitalismus und technologischen Transfer aus erster Hand zu erhalten. Mit diesem Programm wurden auch amerikanische Ingenieure nach Europa entsandt, um zu beraten und technische Unterstützung anzubieten, insbesondere für die Entwicklung von Industrien.
Nach vier Jahren hatte der Plan alle Erwartungen übertroffen. Jedes Mitgliedsland erwirtschaftete ein größeres Bruttoinlandsprodukt als in der Vorkriegszeit.
Am 11. Dezember 1953 erhielt George Marshall für seine Arbeit den Friedensnobelpreis. In seiner Rede sagte er: „Es wurde viel darüber geredet, ob an einen Soldat der Friedensnobelpreis verliehen werden darf. Mir erscheint dies weniger bemerkenswert als offensichtlich manch anderen. Ich kenne viele Schrecken und Tragödien des Krieges. Heute, als Vorsitzender der Kommission für Amerikanische Kriegsdenkmäler, ist es meine Pflicht, den Bau und Pflege von Soldatenfriedhöfen in vielen Ländern in Übersee zu beaufsichtigen, vor allem in Westeuropa. Die Menschenleben, die infolge des Krieges verloren wurden, sehe ich stets vor mir, ausgebreitet und sauber aufgeschrieben in den vielen Spalten der Grabmale. Ich bin zutiefst davon ergriffen, Mittel oder Wege gegen weitere Kriegskatastrophen zu finden. Fast täglich höre ich von Frauen, Mütter oder Familien der Gefallenen. Die Nachwirkungen der Tragödie sehe ich stets vor mir".
Bilanz aus europäischer Sicht
Innerhalb der kurzen Zeitspanne von 1948 bis 1952 hat Europa ein dramatisches Wachstum an wirtschaftlicher Produktion erlebt. Hunger und Not, unter denen so viele entwurzelte Menschen gelitten hatten, verschwanden fast über Nacht.
Ob dem Marshall-Plan alleine die Anerkennung für diesen Erfolg zukommt, ist eine Frage, die Historiker wahrscheinlich nie wirklich werden beantworten können. Aber sicher ist, dass der Marshall-Plan diesen Entwicklungsprozess erst ermöglichte.
Die Sowjets und die Ostblockstaaten hatten eine solche Unterstützung durch die Amerikaner abgelehnt. Hierdurch wurde ein weiterer Keil zwischen die beiden politischen Systeme getrieben. Darauf folgte in Ostdeutschland im Juli 1948 die Einführung der „Ostmark", die Blockade Berlins und die darauf folgende Berliner Luftbrücke in den Jahren 1948/49.
Von Finnland, Ungarn, Rumänien und insbesondere Ostdeutschland hatten die Sowjets große Beträge und Gütermengen als Wiedergutmachung gefordert. Dadurch verlangsamte sich ihre wirtschaftliche Entwicklung in der Nachkriegszeit dramatisch.
Es war ohne Frage der Marshall-Plan, der die Grundlagen für eine europäische Integration schaffte, für vereinfachtes Handeln zwischen den Mitgliedstaaten und den Aufbau von Institutionen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa, um eine wirksame Einheit zu bilden. Er diente als Vorläufer zur Entstehung des heutigen vereinten Europas.
Nur wenige Jahre nach dem Marshall-Plan vereinten sich mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland zur „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft". Mit der wachsenden Entwicklung innerhalb Europas, neu hinzu gekommenen Mitgliedern und dem Vertrag von Maastricht am 1. November 1993 wurde die Europäische Union geschaffen. Hieraus folgte europaweit eine neue Währung: der Euro. Die nationalen Währungen vieler Mitgliedsstaaten wurden in 2002 durch diese einheitliche Währung ersetzt.
Globaler Marshall-Plan
Der frühere US-Vizepräsident Al Gore hat einen „Globalen Marshall-Plan" vorgeschlagen, um Mittel aus den wohlhabenden Nationen zu verteilen, mit denen dann umweltfreundliche Industrien in Dritte-Welt-Ländern unterstützt werden.
Bedenkt man, dass jedes Jahr weltweit 15 Millionen Kinder verhungern und einer von zwölf Menschen unterernährt ist oder dass einer von vier Menschen mit einem Einkommen von unter einem Dollar pro
Tag auskommen muss, wäre ein solches Programm vielleicht gut investiertes Geld. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht mehr ausschließlich auf die Entwicklungsländer, wenn wir uns
vergegenwärtigen, dass eins von acht Kindern unter zwölf Jahren in den Vereinigten Staaten ebenso hungert oder dass 17 Prozent der Kinder in Deutschland an oder unterhalb der Armutsgrenze leben.
Das ERP-Konzept war erfolgreich; aber es braucht dazu einen Staatsmann, dem der nötige Respekt und das Vertrauen entgegengebracht wird wie seinerzeit George Marshall.